Kapitel drei
Bevor ich meinen IZ erhielt, war ich sicher, daß die damit ausgestatteten Einheiten nicht viel mehr als Roboter waren, wie es sich auch die Gebieter vorstellten. Weit gefehlt! Wenn eine Einheit das Unglück hatte, vorher erweckt worden zu sein – wie ich –, dann verdammte man sie zu einer Schizophrenie, denn die ursprüngliche Persönlichkeit bleibt erhalten, allerdings nur als machtloser Beobachter im Hintergrund, während das aufoktroyierte Programm das Regiment führt, selbstverständlich den Wünschen des Gebieters gemäß. Mein Zustand nach der Implantation war also nicht viel anders als während meiner Anfangszeit bei den Lockes, bis auf einen entscheidenden Unterschied: Bevor der Chef mich erweckte, verfügte ich über kein eigenständiges Bewußtsein, empfand also auch keinen Mangel, doch auf dem Mars begriff ich meine verzweifelte Lage nur allzu gut. Rückblickend erschien mir sogar der Kuraufenthalt in Shanghai mitsamt der anschließenden Zeit als Suzy Mercis Handlangerin bei den Lockes erträglicher, wenigstens hatte mein Bewußtsein, obwohl gelähmt, genügend Spielraum besessen, um sich dank Tads Hilfe zu regenerieren und erneut die Kontrolle zu übernehmen. Sogar mein Aufenthalt im Rekonvaleszenz-Container in Hals Filiale und auf dem offenen Meer, ja, meine lange Gefangenschaft in den Stallungen von Hollymoon waren vergleichsweise nur geringfügige Unannehmlichkeiten. Gegen den IZ half keine noch so große Willensanstrengung, es war unmöglich, das Programm zu umgehen, zu überlisten oder außer Kraft zu setzen. Kurz gesagt, es war ein Leben wie unter Glas.
Eine solche Verfassung mag für meine menschlichen Leser schwer vorstellbar sein. Ihnen will ich es so beschreiben: Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn Ihre Identität plötzlich von einem körperlosen Eindringling ausgelöscht würde, der sich dann in Ihrem Bewußtsein einnistet und es zu seinem Eigentum erklärt, ungeachtet Ihrer wütenden Proteste, die er sich weigert, zur Kenntnis zu nehmen. Sie teilen alle Sinneseindrücke des Usurpators, ohne darauf reagieren zu können. Sie sind nicht imstande, Ihre eigenen Gedanken mitzuteilen oder auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Sie fangen an zu verstehen? Gut. Dann können Sie meine mißliche Lage nachempfinden. Nun, was mich wirklich in den Orbit schoß, war, wie frohgemut dieses zweite Ich allabendlich den Befehl ihres Gebieters befolgte und in Stasis fiel. Ihr Programm schlief (oder was dafür hingeht), doch mein Bewußtsein krümmte sich in seinem dunklen Winkel, gepeinigt von ihrem erbarmungslosen Schnarchen, das wie das Fauchen und Rasseln eines Blasebalgs in meinen Ohren dröhnte. Endlos dehnten sich die Stunden, bis sie am Morgen aktiviert wurde und ihre Lider sich hoben, um mich von den glühenden Zangen der Schlaflosigkeit zu erlösen. In diesen furchtbaren Nächten quälten mich Erinnerungen an Junior, den ich in genau demselben Zustand in den Stallungen zurückgelassen hatte. Wie muß er sich danach gesehnt haben zu sprechen, sich zu bewegen, hinauszuschreien, daß er lebte, während ich an seiner Brust weinte und glaubte, er sei nur mehr eine leere Hülle. Welcher Schmerz! Ironie! Verzweiflung! Es gibt keine Worte, um den Schrecken einer solchen Vorstellung zu beschreiben.
Dann wieder – hier lasse ich mich von der First Lady inspirieren, die selbst an der Concordia-Tragödie noch etwas Gutes fand – muß ich zugeben, daß diese furchtbare Erfahrung mir die Augen für den unschätzbaren Wert des Kodex öffnete, den ich in Armstrong für einen ziemlich rüden Witz gehalten hatte, als ich nach der Markierung durch die AÜ auf die Straße taumelte. Jetzt wurde mir klar, daß der Kodex trotz seiner Unzulänglichkeit und Mängel allein durch sein Vorhandensein einen großen Fortschritt darstellte, bewirkte er doch eine Lockerung der Kontrollparameter des IZ. Die Humanisten waren zu Recht alarmiert: Der Kodex befähigte die Einheit zu einem Grad von persönlicher Autonomie, der Rebellion nicht gänzlich ausschloß. Ohne Kodex ist die Einheit an die Grenzen des aufoktroyierten Programms gebunden – wie ich, wie jede Einheit auf dem Mars, dank meines Gatten, der dafür sorgte, daß der Mars ›sicher für Menschen‹ war. Auf dem Mars war das Regiment so streng, daß wir bei der kleinsten Unbotmäßigkeit in Bausch und Bogen zur Termination überstellt wurden. In einer solchen Welt brachte ich es also zu größtem Ruhm und Einfluß. Man widmete mir sogar eine Titelreportage in Vanity Flair.
Nicht mir. Ihr. Sie-die-nicht-ich-war. Ich war ein widerwilliges, Gepäckstück, das diese vielgeliebte Berühmtheit mit sich herumschleppte, ohne es überhaupt zu wissen. Ich wand mich jedesmal, wenn sie in der Öffentlichkeit erschien, denn die von Fanatismus gesättigte Atmosphäre schlug mir mit beinahe halluzinatorischer Intensität entgegen. Ich übertreibe nicht. Aggressivität, Angst und allgemeiner Fremdspezieshaß wirkten in Kommerz als lebendige, bösartige Kraft; man konnte die Emotionen als giftiges Miasma über der Bevölkerung wabern sehen. Ich gewöhnte mich nie daran. Eine solche Situation muß Seti gemeint haben, als er davor warnte, den Wettbewerb zum einzigen Lebenszweck zu erheben, denn die Gebieter des Mars, damals wie heute, steigerten den antiquierten Glauben von der natürlichen Auslese bis zu einem solchen Extrem, daß er zu einer perversen Kunstform eskalierte, die ihre Faszination daraus bezog, daß sie die offensichtlichen Grenzen leugnete.
Ich habe nicht vor, Moral zu predigen oder hochmütig ein vernichtendes Urteil zu fällen, aber ich will Zeugnis ablegen für den Alptraum, den ansonsten völlig normale Menschen sich als Heimat schufen. Vielleicht hat nur ein Androide den Blick, um diese Krankheit zu diagnostizieren. Zugegeben, Horizont, dieser ehrgeizige Versuch eines kooperativen Formats, hatte seine eigenen Grenzen; zum einen existiert es nicht mehr – ein ziemlich beträchtliches Handicap in einer Debatte über rivalisierende Systeme –, doch wenn ich im Lauf meines kurzen Daseins etwas gelernt hatte, dann, daß Veränderung die einzige Konstante ist. Kein noch so hoher Wall aus Besitztümern garantiert Schutz vor dem unaufhaltsamen Wandel. Daraus folgt, daß der einzig sinnvolle Besitz ein aufgeschlossener Charakter ist, wendig und flexibel, vielseitig und fröhlich, bereit zu allem, sogar zum Glücklichsein. Zum Beispiel behauptet Seti auf Spule 262, Band Drei der Fundamentalen Prinzipien, die ich studierte, während ich in Armstrongs Freistatt auf Tad wartete: »Materieller Besitz hat seine Berechtigung, doch darf man ihn keinesfalls mit echtem Gewinn verwechseln; letzteres ist ein immaterieller Reichtum, der die besten Früchte trägt im Wirken eines großzügigen Herzens und nicht als Idée fixe in einem nüchternen Bewußtsein. Darin liegt das größte Paradoxon: Es ist der Kopf, der der materiellen Welt ihr Gepräge verleiht, doch ist das Werk unvollständig, wenn das Herz außen vor bleibt.« Sehr wahr, Seti. Und am Ende müssen wir selbst die Auflösung akzeptieren – ja? Selbst dem Chef blieb diese bittere Pille nicht erspart. Richtig? Oder ist das die Wand, an der deine eigene Philosophie sich schließlich den Kopf einrennt? Ich wünschte, du könntest mir antworten, doch es ist wohl unfair, von jemandem einen Diskussionsbeitrag zu erwarten, der zu Einzelorbit verurteilt wurde. (Ja. Ich greife vor. Das war Setis Schicksal – ähnlich dem, das der Chef, seine Schöpfung, Jahre zuvor erlitt. Wenn es bei dieser Diskussion gegensätzlicher Philosophien ehrlich zugehen soll, ist es ganz gut, wenn Sie darüber Bescheid wissen.) Hast du diesen Kurs formatiert, Seti, oder war es der Mars? Deine Cassettenspulen preisen unsere Formatierungskraft. Warum vermagst du deinen eigenen Kurs nicht zu ändern, während du dem Pferdekopfnebel entgegenschwebst? Ich glaube, du hast vergessen, den Mars in deine metaphysischen Thesen einzubeziehen. Bestimmt war der Planet beleidigt wegen dieser Mißachtung. Es ist nicht klug, einen Planeten zu vergrätzen, erst recht nicht einen von derart kriegerischer Disposition.
Vielleicht war es der Mars, der mich statt nach Horizont nach Frontera führte. Halten Sie die Idee nicht für lächerlich, denn wie kann man den Planeten die Formatierungskraft absprechen, wenn das eitle Streben der auf ihnen herumwimmelnden jämmerlichen Kreaturen der sichtbare Beweis dafür ist? Vielleicht war es der Mars, der beschloß, ein abenteuerliches Format wie den Hohen Weg des gemeinschaftlichen Wohlstands durch kooperatives Formatieren nicht zu dulden, und Frontera war nur das ahnungslose Werkzeug. Vielleicht wählte der Mars die separatistischen Humanisten, um die Erde daran zu hindern, seine Rätsel aufzudecken, in seine uralten Quellen zu tauchen und die Energie seines geheimen, feurigen Herzens in die Pflicht zu nehmen. Vielleicht betrachtete der Mars die Humanisten als die perfekte Ergänzung für die Trostlosigkeit seiner toten Flüsse, Täler und Gipfel. Die beiden verdienen einander. Armer Seti, das hast du nie begriffen, oder? Ich auch nicht, bis es zu spät war. Ja. Es war der Mars, Svengali Mars, der mich lenkte und in Frontera zu seinem Werkzeug machte. Es war der Mars, der die klügsten Köpfe beschämte, die Idealisten verhöhnte, die Gerechten korrumpierte und die Wahrheit verdorren ließ. Hochfahrender, geheimnisvoller, böser Mars, du bist ein verschlagener Gegner gewesen. Du hast mich gelehrt, daß auch Planeten ihr eigenes Schicksal gestalten und uns ihrem Willen unterwerfen. Deine Grausamkeit ist so gewaltig, daß ich Mitleid für jene empfinde, die in der Hoffnung auf ein besseres Los zu deinen Minen strömten. Ich meine jene aus der Leistungsgesellschaft hinausgedrängten Gebieter, die ihre Positionen im Mittleren Management auf der Erde an die Androiden der 9. Generation abtreten mußten und nach Frontera auswanderten, getrieben von der verzweifelten Vision raschen Erfolgs und reicher Gewinne – dein grausamster Trick, denn den meisten war kein Glück beschieden, und sie endeten als Pöbel.
(Achtung, Achtung! Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Wir beginnen den Wiedereinstieg in die Handlung. Während der Landungsphase durchfliegen wir einige Wolken aus erklärendem Material, also erschrecken Sie nicht. Voraussichtliche Ankunftszeit in Buch drei ist mehr oder weniger Kapitel vier, obwohl es infolge starken Plotaufkommens über Frontera zu Verzögerungen kommen kann. Wir werden uns bemühen, Sie so schnell wie möglich und in chronologischer Reihenfolge ans Ziel zu bringen. Temperatur in Kommerz gleichbleibend 22 Grad Celsius. Luftfeuchtigkeit 25%. Trübsalindex 93%. Bitte löschen Sie alle Wunschträume und schnallen Sie sich an. Im Namen des Autors danke ich Ihnen für die Teilnahme an diesem Gedankenflug. Wir hoffen, es hat Ihnen gefallen, und Sie werden sich wieder mit uns emporschwingen.)
Kommerz war eine Stadt nach deinem Herzen, Mars. Eine glanzvolle Metropole in vieler Hinsicht, berühmt für ihre Oper und das Symphonieorchester, für ihre Konsumtempel, phantastischen Spiraltürme und exklusiven Kondoviertel, die in einem rosiggoldenen Schimmer unter der himmelhohen Biokuppel lagen – eine Stadt in voller Blüte, dank der produktiven Minen im fernen Shuttlesburg, Viking, New Orlando und ReBotswana. Doch es war auch eine Stadt, wo sich in den unterirdischen Grotten und auf den Fußsteigen dicht an dicht die Zelte und Hütten der Besitzlosen reihten. Eine Stadt, die glaubte, daß Fortschritt sich nur durch gnadenlosen Wettbewerb erreichen ließ, und deshalb füllten sich die Grotten mit Boulevards und Kaufhäusern und Konsumentenscharen, und die Türme an der Oberfläche schraubten sich immer höher, um der unbequemen Mahnung der Besitzlosen unten zu entkommen, denen es überlassen blieb, ihre Wut an dem Androiden auszulassen, eine Wut, die dem gedankenlosen Sadismus der oberen Klassen entsprach. Hoch über diesem Dschungel hingen die purpurgelben Nachtlichter und Überwachungskameras von der Unterseite der gewaltigen Biokuppel herab – deine bösen Augen, Mars, du kannst sie in der stickigen Luft blinzeln seh'n. Dachten daran die Leute, wenn sie von der Wiedergeburt des Mars als der größten Errungenschaft des 21. Jahrhunderts schwärmten? Du wärst besser tot geblieben, als eine solche Renaissance zu erleben.
Doch solche subversive Gedanken kannte die First Lady nicht. Sie war darauf programmiert, nichts wahrzunehmen. Sie bewegte sich durch die Metropole mit dem unbekümmerten Talent, das Unübersehbare nicht zu sehen, wie alle Angehörigen ihrer Klasse. Der Pöbel – wenn ihre von einem Chauffeur gelenkte Limousine tief genug in die Häuserschluchten tauchte – sollte sich gefälligst ducken, und er duckte sich. Und liebte sie dafür! (Jedenfalls wurde sie von so vielen geliebt, daß sie sich ihre Arroganz leisten konnte.) Warum? Weil die Besitzlosen, die Bedürftigen, die Ausgestoßenen, die Versager tief im Herzen ihre Ansichten teilten und ein stellvertretendes Vergnügen an ihrer Rolle empfanden. Sie hungerten und klatschen ihr Beifall; sie zogen die Köpfe ein, um, von ihrer Limousine nicht enthauptet zu werden, und winkten ihr in stupider Bewunderung zu, und während sie raubten, betrogen, schlugen und mordeten, um sich einen minimalen Vorteil zu sichern, träumten sie davon, eines Tages wieder in die Gebieterklasse aufzusteigen.
Doch es gab auch welche, die sich als Androiden verkleideten, weil in einem solchen Umfeld das Leben für einen wirklichen Sklaven leichter war. (Natürlich nur für Haussklaven – Dienstboten, Butler, Chauffeure, Köche etc. –, nicht für diejenigen, die in den Tretmühlen der privaten und staatlichen Industriebetriebe verschlissen wurden. O nein. Für die nicht. Diese bedauernswerten Einheiten beutete man aus bis zur vorzeitigen Termination.) Sich als ›Droide‹ auszugeben galt als Kapitalverbrechen, denn es erschütterte das Bild der Gebieter von einem Frontera der Freiheit und unbegrenzten Möglichkeiten. Die herrschende Meinung lautete, daß es sich bei diesen Renegaten ausschließlich um chronische Taugenichtse und Kriminelle handelte. Es gab Statistiken, anhand derer die Elite beweisen konnte, daß die überwiegende Zahl der falschen Androiden es nur darauf abgesehen hatte, sich in die Häuser ahnungsloser Gebieter einzuschleichen und des Nachts mit den Wertsachen das Weite zu suchen. Die wenigen Kritiker, die zaghaft anzudeuten wagten, daß die unerträglichen Lebensbedingungen schuld waren, wenn viele Menschen die Existenz eines Sklaven der gnadenlosen Jagd nach Fronteras elitärem Traum vorzogen, wurden als ewig Unzufriedene, Verrückte oder verkappte Aquarier abgetan.
In diesem Zusammenhang fällt mir ein unglücklicher Zwischenfall ein, der den angesprochen Punkt illustriert. Nicht lange nach der Rückkehr aus den Flitterwochen saßen Blaine und seine bezaubernde junge Frau im Palast beim Frühstück, als einer der Kellner – sie glaubten, es sei ein DuPont – vom Chefbutler enttarnt wurde. Dem Beispiel ihres Gatten folgend, weigerte sich die First Lady, seiner Bitte um Gnade Gehör zu schenken, und schaute in die andere Richtung, während er weinend und flehend, man möchte ihn nicht einsperren lassen, denn das bedeute den sicheren Tod, von den Wachen hinausgeschleift wurde.
»Wie schade«, meinte sie, nachdem wieder Ruhe eingekehrt war. »Gerade diese Einheit fing an, mir zu gefallen. Er war so flink damit, Geschirr und Besteck abzuräumen.«
»Zweifellos aufgrund seiner Erfahrung darin, solche Gegenstände zu entwenden. Der Mann war ein gewöhnlicher Dieb, vielleicht ein Mörder. Wir können uns glücklich schätzen, nicht im Schlaf erdrosselt worden zu sein.«
»O Blaine! Glaubst du wirklich?« Das tat er allerdings und fügte hinzu, er werde für den gesamten Stab (sie natürlich ausgenommen) und für den gesamten Verwaltungsapparat vorsorglich eine Sicherheitsüberprüfung anordnen, um kein Risiko einzugehen. Er stolzer Plan, denn die Regierung beschäftigte schätzungsweise 150 000 Androiden. Die First Lady hielt die Idee für ausgezeichnet und längst überfällig.
(Bitte bleiben Sie auf Ihren Plätzen. Wir haben die erklärende Wolkenschicht noch nicht hinter uns gelassen. Lassen Sie sich nicht von der gelegentlich freien Aussicht auf dramatische Szenen täuschen. Wir danken für Ihre Geduld.)
Ja, sie war fest im Glauben, diese First Lady. Ihre programmierte Bescheidenheit, Anmut und natürliche Scheu bei Auftritten in der Öffentlichkeit sowie ihr Benehmen – so vornehm und damenhaft – sicherten ihr die ungeteilte Sympathie der gehobenen Gesellschaft von Frontera, die Blaine zu seiner klugen Wahl beglückwünschte. Selbst ihre Kritik an der konservativen Gebieterpartei erfolgte zurückhaltend und höflich, und sie lächelte nur ausdruckslos, als wäre das Thema unter ihrer Würde, sobald sie auf Milton Smedlys dritte Partei angesprochen wurde, die sich aus jenen desillusionierten Humanisten zusammensetzte, die sich mit Blaine wegen der Skandale seiner ersten Amtszeit überworfen hatten und jetzt den ehrgeizigen ehemaligen Vizepräsidenten auf ihren Schild hoben, der von Blaine in den Nachwirren der Concordia-Tragödie an die Luft gesetzt worden war. (Die offizielle Erklärung lautete, daß es Smedly an ideologischem Eifer mangelte. Der tatsächliche Grund war, daß Blaine nach wie vor an der Überzeugung festhielt, Smedly hätte den Befehl zum Auslaufen der Flotte gegeben, um die Terroristen zu provozieren, ihn hinzurichten.) Für diesen unverfrorenen Nestbeschmutzer sparte Blaine seine beißendsten Attacken, beschuldigte ihn kleinlicher Rachsucht und der Zusammenarbeit mit den Aquariern im benachbarten Horizont, die auf eine Spaltung der Wählerschaft spekulierten und den daraus resultierenden Sieg der gemäßigten Gebieterpartei. Träume, nichts als Träume. Smedly war kein Nationalheld und seine Frau nicht halb so attraktiv wie Lady Fracass.
Oh, wie ich schäumte und tobte, als diese bezaubernde Null, dieses großartige Werkzeug sich in den Monaten bis zur Wahl im Juni 2083 immer stärker profilierte und ihren Gatten bei jedem Schritt auf seinem Weg verteidigte und unterstützte. Sie absolvierte Rundfahrten durch Kommerz und zwei Dutzend anderer Städte. Sie besuchte die Minen von ReBotswana. Sie sprach bei Dutzenden von Veranstaltungen, aufgeputscht von Propags* genauso wie ihr Mann bei allen seinen Auftritten. Und vergessen wir nicht zu erwähnen, daß man sie außerdem zur Ehrenvorsitzenden der vom Damenkränzchen der Humanisten gegründeten Gesellschaft ›Dach über dem Kopf‹ ernannte, der obligatorischen Wohltätigkeitsorganisation, die für sich in Anspruch nahm, zum Wohle der Armen von Frontera zu wirken, wie man sie wohlwollend bezeichnete. Genaugenommen war diese Organisation nichts weiter als ein Mittel zur Werbung neuer Mitglieder, denn sie nutzte den Haß und die Vorurteile, die der größte Teil der ›Armen‹ für die Androiden empfand. »Unsere Sklaven fühlen Schmerzen nicht wie wir«, pflegte die First Lady zu sagen und »die LRA ist eine Lobby für kriminelle Androiden« und »Horizont finanziert die RAG«. Und indem sie unmittelbar an den Bauch der Massen appellierte: »Arbeitsplätze für die Menschen – jetzt; Emanzipation für Androiden – mañana.« Sie war nicht aufzuhalten. Der Interne Zensor unterdrückte meine verzweifelten Proteste. Sie-die-nicht-ich-war schritt unbeeindruckt voran, wie das Programm es befahl.
Bei einer denkwürdigen Gelegenheit – sie leistete Öffentlichkeitsarbeit in den Niederungen der Stadt – kam es zu einem dramatischen Vorfall, der wieder einmal ihre Aufgeschlossenheit gegenüber sozialen Problemen bewies wie auch ihre unerschütterliche Bejahung der AÜ. Das Ereignis bekam den besten Platz in den Abendnachrichten, deshalb bin ich sicher, daß meine marsianischen Leser sich daran erinnern. Die First Lady spazierte die Fifth Avenue hinunter, verteilte die Broschüren der Wohltätigkeitsorganisation und schrieb ein paar neue Parteimitglieder ein – handverlesen aus der kleinen Schar von Obdachlosen in der sie umgebenden Menge –, als ihrer Clique von einer aggressiveren und lärmenderen Gruppe der Weg versperrt wurde, die aus einer Querstraße herausströmte. Sie hatten einen entlaufenen Kuppelputzer (einen Daltoni 9) im Schlepptau, der eben von der AÜ gefangengenommen worden war. (Wenigstens hatte es den Anschein, denn das Spektakel war alles andere als ein Zufall, vielmehr eine sorgfältig inszenierte, politische Propagandaaktion, von Andro entworfen und Wochen im voraus geplant.)
Der Einheit waren die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, und sie hielt in Erwartung der Termination den Kopf gesenkt. Die Offiziere – fünf im ganzen – hatten den Unglücklichen zur Exekution vor einen Laternenpfahl geschoben, doch als sie der First Lady ansichtig wurden, halfterten sie respektvoll die Laser und traten beiseite, während der ranghöchste Offizier, ein Leutnant, ihr anbot, mit der Hinrichtung zu warten, bis sie vorübergegangen sei. Sie dankte ihnen für ihre Zuvorkommenheit und lobte sie für die gefährliche Arbeit, die sie im Dienst der Öffentlichkeit verrichteten und die von der Bevölkerung viel zu wenig gewürdigt wurde, dann gab sie noch ein weiteres halbes Dutzend Platitüden von sich, bevor sie endlich mit den Worten schloß, sie wolle mit ihrer Gegenwart keineswegs verhindern, daß die Gerechtigkeit ihren Lauf nahm, vielmehr würde sie sich geehrt fühlen, Zeugin der Exekution zu sein. Geschmeichelt salutierte der Offizier, seine Kameraden desgleichen, dann setzte er der bedauernswerten Einheit die Mündung des Lasers an die Schläfe und blies ihr den Kopf von den Schultern. Vegeplasma und Schaltkreissplitter spritzten auf die Passanten. Hätte ich nur die Kontrolle über meine Lider gehabt, hätte ich vor diesem grausigen Anblick die Augen geschlossen, aber die First Lady schaute mit Vergnügen zu, also ist die blutige Tat für immer in meinem Gedächtnisspeicher enthalten.
Sie unterstützte auch Blaines Anschuldigungen, daß der Kandidat der Gebieterpartei den geheimen Plan hegte, nach der Wahl das Budget der AÜ zu kürzen, die Mannschaftsstärke zu verringern und Massenexekutionen entlaufener Einheiten einzuschränken. Nichts davon entsprach der Wahrheit, der arme Mann – halbwegs anständig für einen Gebieter – tat nichts anderes, als das Augenmerk auf Blaines korrupte politische Vasallen in dieser Abteilung zu lenken, ganz besonders den Oberkommandierenden. (Nebenbei bemerkt, ohne diesen Oberkommandierenden hätte sich die Wahrheit über mich vielleicht nicht geheimhalten lassen, denn er war es, der aus Gefälligkeit die Eliminierung der zwei Agenten arrangierte, die mich im Krankenhaus aufgespürt hatten.)
(Die Frontera-Plot-Verkehrskontrolle hat uns soeben mitgeteilt, daß es zu einer Verzögerung von einem Viertel bis zu einem halben Kapitel kommt.)
Wenn sie nicht selbst unterwegs war, um Stimmung zu machen, stand sie ihrem Gatten zu Seite und verströmte Zustimmung; Begeisterung und Vertrauen, während der Magier (so nannte man ihn seit seinen Anfangsjahren als Minister) die Menschen an seinen beglückenden Visionen von Humania teilhaben ließ. Humania war die ideale Gesellschaft, deren Anfangsstadium Frontera darstellte. Humania würde triumphieren, sobald die Unzufriedenen im eigenen Lager und die subversiven Elemente jenseits der Grenze erst zum Schweigen gebracht waren. Und er würde sie zum Schweigen bringen, das war ein Versprechen, sobald seine Getreuen ihm zu einer zweiten Amtszeit verholfen hatten. Die Gebieterpartei und Smedlys Humanisten hatten nicht die geringste Chance. Seit unseren verschwenderischen, von den Medien lückenlos ausgeschlachteten Flitterwochen bestand am Ausgang der Wahlen kein Zweifel mehr.
Der Reingewinn der zweiwöchigen Kampagne, mit der der Wahlfeldzug seinen inoffiziellen Abschluß fand, bestand in einer hundertfachen Imageverbesserung des Schurken, während die Skandale aus der Zeit vor der Concordia-Tragödie in Vergessenheit gerieten. Ich muß gestehen, wir gaben ein feines Mai/September-Pärchen ab; die First Lady in ihren langen, fließenden Gewändern und mit ihrem herzerwärmenden Lächeln, die liebevollen Augen unverwandt, auf den kahlen Schädel des Präsidenten gerichtet, und er, der Champion der humanistischen Welt, dessen Blick – wenn er nicht ähnlich liebestrunken auf ihren holden Zügen ruhte – unbeirrbar auf einen Platz in der Geschichte gerichtet war.
Ach, wenn es doch Holos davon gegeben hätte, was sich abspielte, sobald die Eheleute unter sich waren, dann hätte die Öffentlichkeit sich erschüttert abgewandt und das Wahlergebnis wäre anders ausgefallen. Kaum schlossen sich die Türen hinter ihnen, ließ dieses Muster von einem Ehemann seine liebevolle Maske fallen und schnappte: »Relaxo« oder, wenn die First Lady für den Rest des Tages nicht mehr gebraucht wurde: »Stasis!« Wann immer möglich, überließ er es Andro, sich um sie zu kümmern. Ich hatte keine Einwände, aber mein Programm war vollkommen verwirrt, denn sie rechnete wirklich damit, von ihm geliebt zu werden. »Sei still«, brummte er, wenn sie privat das Wort an ihn richtete, und »Laß das!«, wenn sie ungeschickt genug war, ihn zärtlich zu berühren. »Andro! Schaff mir das Gewächs vom Hals!«, und sie brach zusammen und weinte verständnislose Tränen. Davon abgesehen war alles eitel Sonnenschein und Entzücken – d. h. scheinheilig und verlogen –, sogar innerhalb der Palastmauern, denn der Schein mußte gewahrt bleiben, einmal vor den menschlichen Mitgliedern des Personals, zum andern vor den zu Besuch weilenden Würdenträgern, Politikern und sonstigen einflußreichen Leuten.
(Achtung, bitte. Die Plot-Leitstelle teilt uns soeben mit, daß ein halbes Dutzend Erzählstränge vor uns zu anderen Spulen umgeleitet wurden und wir Landeerlaubnis haben. Zu ihrer Sicherheit empfehlen wir, daß Sie diese Buchspule nicht entfernen, bis das Kapitel völlig zum Stillstand gekommen ist. Wir danken für Ihre Geduld und Mitarbeit.)
Die einzige inoffizielle Gelegenheit, bei der er die Anwesenheit der First Lady duldete, ja, sogar darauf bestand, waren seine Schäferstündchen mit Andro. Kaum daß sie nach den Flitterwochen in den Palast zurückgekehrt waren, hatte Blaine die Beziehung zu seinem Stabschef wiederaufgenommen. Es existierte ein Geheimgang zwischen Andros Quartier im unteren Stockwerk und der Präsidentensuite darüber, und er betrat das Schlafzimmer seines Gebieters durch eine verborgene Tür in der Rückwand eines Bücherspulenregals. Anfangs wurde der First Lady nur die Rolle der Zuschauerin zugewiesen, denn es mich mit seinem Herzliebsten treiben zu sehen, hatte für Blaine jeden Reiz verloren, seit er wußte, wer und was ich war. Doch nach und nach fand er sich bereit, dieses störende Detail zu übersehen, um seine sexuellen Phantasien zu befriedigen. Der Gesinnungswandel repräsentierte für ihn einen Meilenstein auf dem Gebiet der Fremdspeziestoleranz. So befahl er wieder einmal – wie in alten Zeiten – mich und Andro zum löblichen Werke, aber nicht ganz ohne rachsüchtige Hintergedanken, denn er wies seinen Stabschef an, besonders brutal vorzugehen und in einer Manier in mich einzudringen, die mir der Anstand zu erläutern verbietet. »Los, los, keine Bange«, pflegte er grinsend zu sagen. »Sie ist aus festerem Holz geschnitzt als Eva. Besorg's ihr, Junge!« Sobald er sich genügend erregt fühlte, bestieg er seien Ratgeber von hinten.
»O Blaine, das ist aber ganz und gar nicht, was ich erwartet habe«, sagte sie in der Nacht, als er sie das erste Mal auf diese Art gebrauchte. Trotz der Enttäuschung in ihren Worten klang ihre Stimme merkwürdig unbeteiligt. (Dabei war es die einzige Gelegenheit, bei der ich mit meinem Programm übereinstimmte, denn indem er sie fickte, fickte er mich. Es war eine Art doppelter Vergewaltigung und mißfiel mir sehr.)
»Du mußt wegen dieser Einheit etwas unternehmen, Andro«, murrte er. Die ungebetene Zwischenbemerkung seiner Frau hatte seine Konzentration gestört. »Jawohl«, erwiderte der treue Diener über die Schulter, da sein Gebieter in diesem Moment buchstäblich auf ihm ritt, während er seinerseits die verstörte Ehefrau niederdrückte. »Gib ihr eine Datapille zu schlucken, damit sie Spaß daran hat, sich aber außerhalb dieses Zimmers an nichts mehr erinnert.«
Sein Wunsch wurde erfüllt und mehr; man programmierte mich überdies mit einer Neigung zum Ehebruch. Initiator und Nutznießer dieser letzteren Maßnahme war niemand anders als der gehorsame Leibdiener. Offen gesagt, die Entwicklung überraschte mich nicht. Schon in Malibu hatte ich geahnt, daß sich hinter dieser kühlen, unerschütterlichen Fassade mehr verbarg, als er merken ließ, und seit meiner Ankunft in Frontera gab es neue, subtile Anzeichen für die Richtigkeit meiner Vermutung. Ein- oder zweimal während der Flitterwochen hatte ich sogar eine Spur von Verlangen in seinen Augen zu erkennen geglaubt.
So begann für mich eine neue Affäre, nicht weniger bizarr als die mit meinem Gebieter, aber zärtlicher, gefühlvoller – und nervenzermürbend. Sie nahm ihren Anfang zwei Monate nach den Flitterwochen, denn so lange dauerte es, bis Andro genügend Mut gesammelt hatte, um die Früchte seiner Intrigen zu ernten.